WIR NEUEN DEUTSCHEN

mit Alice Bota und Özlem Topçu

Ausgezeichnet mit dem Fortschrittspreis des Magazins Berliner Republik und mit dem Newcomer-Preis des Medium-Magazins

“`Wir neuen Deutschen´ ist keine gefühlige Beschreibung der Suche nach Heimat, es ist ein von großer Ernsthaftigkeit, aber niemals von Selbstmitleid getragener Bericht über deutsche Leben, die sich immer noch nicht wie solche anfühlen dürfen.“

– Spiegel Online

„Eine kluge Auseinandersetzung mit den komplexen Begriffen Identität und Heimat.“

– Profil

„Ein Buch, das Mut macht, das nachdenklich stimmt und das zu mehr Toleranz auffordert.“

– Neue Ruhr Zeitung

AUSZUG: MEINE HEIMAT, KEINE HEIMAT

Kann etwas schlimm sein an der Frage, woher man kommt? Wer sie stellt, kann sie für sich selbst meistens beantworten. Die Eltern sind in diesem Land groß geworden und die Großeltern auch, der Name hat Tradition, klingt vertraut, und im Telefonbuch stehen manchmal Dutzende andere, die genauso heißen. Wer so fragt, gibt sich mit einer einfachen Antwort meist nicht zufrieden, sondern fragt weiter:

“Bist du lieber in der Türkei oder hier?”

“Bist du mehr vietnamesisch oder deutsch?”

“Ist an dir noch überhaupt etwas polnisch?”

Wer so fragt, will uns besser verstehen: Unsere Namen und Biographien klingen seltsam, so fremd. Wir antworten etwas, wählen unsere Worte vorsichtig, wir wollen niemanden vor den Kopf stoßen. Es soll nicht so klingen, als würden wir ein Land dem anderen bevorzugen. Wir wollen nicht undankbar wirken oder illoyal. Und wir kennen die Antwort selbst nicht so genau. Manchmal sagen wir deshalb: Ich bin beides. Oder: Ich bin keines. Es läuft ja fast auf dasselbe hinaus.

Während wir diese Sätze sagen, verschweigen wir etwas anderes. Das Eigentliche hängt unbeantwortet in der Luft: die Frage nach der Heimat. Denn Heimat, das ist für uns ein so schwieriges, schmerzhaftes und sehnsuchtsvolles Ding, dass es uns schwerfällt, darüber zu reden, geschweige denn, Antworten zu geben.

Für uns ist Heimat die Leere, die entstand, als unsere Eltern Polen, Vietnam und die Türkei verließen und nach Deutschland gingen. Ihre Entscheidung zerriss unsere Familiengeschichte. Wir sind in einem anderen Land aufgewachsen als unsere Eltern, in einer anderen Sprache als sie, mit Liedern, Bildern und Geschichten, die sie nicht kannten. Deutsche Traditionen konnten wir von ihnen nicht lernen. Das Bewusstsein, zu diesem Land zu gehören, noch weniger. Wir kennen es nur vom Hörensagen: das Heimatgefühl, das unsere deutschen Freunde spüren, weil sie ihren Platz in diesem Land geerbt haben. Diese Sicherheit.

Es gibt viele Arten, das Wort Heimat zu verstehen. Auf Polnisch heißt es Mała Ojczyzna, “kleines Vaterland”, auf Türkisch Anavatan, “Mutterland”, und auf Vietnamesisch que, “Dorf”. Obwohl sich die Begriffe unterscheiden, spielen sie alle auf die Verbindung zwischen Biographie und Geographie an: Heimat ist der Ursprung von Körper und Seele, es ist der Mittelpunkt der eigenen Welt. Die Kultur eines Landes prägt das Wesen der Menschen, die dort aufwachsen. Sie erzieht sie wie Mutter und Vater ihre Kinder. Sie macht die Deutschen diszipliniert, die Franzosen charmant und die Japaner höflich, das ist die Vorstellung. Aber was bedeutet das für die, die in zwei Ländern aufgewachsen sind: Haben die überhaupt eine Heimat? Oder haben sie zwei? Wieso fällt uns kein Plural zu diesem Wort ein?

Ein Mädchen, das in Polen Lesen und Schreiben gelernt hat und erst mit acht Jahren nach Deutschland kam; das erst hier die Sprache gelernt hat, die sie zu ihrem Beruf gemacht hat: Ist sie wirklich Polin? Ein Kind, das drei Jahre in der Türkei lebte, sonst aber in Flensburg in einer halb türkischen, halb deutschen Welt aufwuchs: Was ist seine Heimat? Eine Deutsche, die aussieht wie eine Vietnamesin, die in dem einen Land lebte und das andere nur besuchte: Hat sie überhaupt eine Heimat?

Die gebrochenen Geschichten unserer Familien machen es schwer, eindeutig zu sagen, woher wir kommen. Wir sehen aus wie unsere Eltern, sind aber anders als sie. Wir sind allerdings auch anders als die, mit denen wir zur Schule gingen, studierten oder arbeiten. Die Verbindung von Biographie und Geographie ist zerrissen. Wir sind nicht, wonach wir aussehen. Wir wissen nicht, zu wie viel Prozent wir polnisch sind und zu wie viel deutsch; so denken wir gar nicht. Oft haben wir uns gefragt, ob unser Humor, unser Familiensinn, unser Stolz oder unsere Emotionalität aus dem einen Land kommen oder dem anderen. Haben wir sie von unseren Eltern geerbt? Oder in der deutschen Schule gelernt? Uns von unseren Freunden abgeschaut?

In unseren Tagebüchern haben wir den Zwiespalt aufgeschrieben: Wer bin ich, wenn ich nicht weiß, woher ich komme?

Uns fehlt etwas, das unsere deutschen Freunde, Bekannten und Kollegen haben: einen Ort, wo sie nicht nur herkommen, sondern auch ankommen. Wo sie Antworten auf sich selbst finden und andere treffen, die ihnen ähnlich sind – so stellen wir es uns zumindest vor. Wir hingegen kommen nirgendwo her und nirgendwo an. Es gibt keinen Ort, an dem wir unseren Zwiespalt überbrücken können, denn er liegt im Niemandsland zwischen deutscher und ausländischer Kultur. Wenn wir mit unseren deutschen Bekannten und Kollegen zusammensitzen, fragen wir uns oft: Gehöre ich wirklich dazu? Und wenn wir mit unseren polnischen, türkischen und vietnamesischen Bekannten und Verwandten zusammensitzen, fragen wir uns dasselbe. Wir sehnen uns nach einem Ort, an dem wir sein können, statt das Sein vorzuspielen. Gleichzeitig wissen wir: Das ist kein Ort, sondern ein Zustand.

Unser Lebensgefühl ist die Entfremdung. Sie wird begleitet von der Angst, die anderen in der Harmonie ihrer Gleichheit zu stören. Von der Angst, von den anderen als Fremdkörper wahrgenommen zu werden. Selten reden wir über dieses Gefühl. Wer könnte uns schon verstehen? Wir wollen normal sein, und wenn das nicht geht, wollen wir wenigstens so tun, als ob.